Mit 15 Mutter und 25’000 Franken Schulden vom Ex – dank Spenden ist eine junge Schweizerin endlich
schuldenfrei!
Mit 15 wurde Nina* ungewollt schwanger und stand vor einem Berg Schulden, die der Vater des Kindes unter ihrem Namen angehäuft hatte. Die Geschichte der 26-jährigen Appenzellerin bewegte die Ostschweiz – und darüber hinaus. Dank Spenden ist die junge Frau heute schuldenfrei. Die Geschichte eines Neuanfangs.
Für die meisten Leute mag es nichts Besonderes sein, die Post zu holen. Eine alltägliche Pflicht, weiter nichts. Doch für Nina war der Gang zum Briefkasten bis vor Kurzem der blanke Horror. Aus Angst vor weiteren Mahnungen, Betreibungen und Pfändungsandrohungen ging sie manchmal tagelang daran vorbei.
Existenzängste und Verzweiflung bestimmten die vergangenen zehn Jahre das Leben der 26-jährigen
Appenzellerin. Denn ihr Ex-Freund und Vater ihrer heute zehnjährigen Tochter hatte sie nicht nur betrogen, sondern nach der Trennung einen Berg Schulden unter ihrem Namen angehäuft. 25’000 Franken. Rechtlich hatte sie nichts in der Hand, sie war die Schuldnerin.
Für die damals 15-Jährige begann ein Teufelskreis: Weil sie vor einem Haufen Schulden stand, musste sie ihre damals halbjährige Tochter zu einer Pflegefamilie geben. Auf finanzielle Unterstützung ihrer eigenen Eltern konnte sie nicht hoffen. Ihre Mutter hatte sie vor die Türe gestellt, als sie sich weigerte, abzutreiben. Und ihr Vater hatte die Familie verlassen, als Nina noch klein war.
Statt eine Ausbildung zu machen, wie andere in ihrem Alter, musste sich Nina einen Job suchen, um die
Schulden zu begleichen. Von ihrem monatlichen Einkommen als Serviceangestellte von 4300 Franken
netto gingen jeweils rund 2500 Franken an Gläubiger, mit dem Rest – mit 1800 Franken – musste sie ihren
Lebensunterhalt finanzieren. Wohnung, Krankenkasse, Versicherung, Lebensmittel. Oftmals reichte das Geld
nicht. Während sie die einen Schulden abstotterte, häuften sich neue an. An manchen Tagen sah sie keinen
Ausweg mehr und dachte darüber nach, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Süsses, Gutscheine und Geld
Seit die junge Frau im «Tagblatt» ihre Geschichte erzählt hat, sind rund zehn Monate vergangen. Inzwischen holt Nina die Post jeden Tag. Sie dreht den kleinen Schlüssel und weiss: Im schlimmsten Fall ist die Rechnung der Krankenkasse darin – so wie gestern. Jetzt liegt sie auf dem Esstisch, bereit zur Zahlung. Die spärlich
eingerichtete Wohnung sieht unverändert aus. Doch die Frau auf dem Stuhl gegenüber ist eine andere. Ninas
Haare sind kürzer, ihre Augen fröhlicher. Sie strahlt. Nach zehn Jahren sind erstmals alle Schulden abbezahlt.
Den Moment, als die letzten beglichen waren, kann Nina genau beschreiben:
„Es war ein extrem befreiendes Gefühl.
Ich habe gespürt, wie mir das Atmen
leichter fiel. Der Kloss im Hals war
plötzlich weg.„
Sie habe geweint – doch dieses Mal nicht wegen des grossen Drucks und der vielen Sorgen – dieses Mal aus
Freude und Dankbarkeit. «Dass mich so viele Leute auf ganz unterschiedliche Weise unterstützt haben, berührt
mich sehr. Ich möchte mich von Herzen bei allen bedanken.»
Die meisten Spender hätten direkt Rechnungen bezahlt oder Gutscheine geschickt, sagt Nina. Etwa für die
Bäderwelt im Säntispark, einen Znacht im Restaurant oder für Kinderbücher für ihre Tochter. Für Dinge, die sich die angehende Motorradmechanikerin im zweiten Lehrjahr nie hätte leisten können. In einem Päckli schickte ihr jemand Süssigkeiten, Nussgipfel, Schokolade und ein Schächteli voller Münzen. «Die Person hatte
offensichtlich für mich gesammelt», erzählt Nina. Insgesamt seien durch Geldspenden knapp 13’000
Franken zusammengekommen.
Spendengelder möglichst sparen
Auch beim Sozialamt, wo sie früher Stammgast war, ist Nina schuldenfrei. Dank eines Innerrhoder Ehepaares,
das sich bei der Behörde gemeldet und angeboten hatte, die Schulden von 5500 Franken zu begleichen.
«Darüber bin ich sehr froh. Sonst hätte ich nach der Lehre wieder einen Berg Schulden zurückzahlen müssen.
Jetzt erhalte ich vom Sozialamt zwar keine Unterstützung mehr. Aber das ist die bessere Lösung.» Sie versuche mit ihrem Lohn von 500 Franken und rund 400 Franken Stipendien pro Monat über die Runden zu kommen und die Spendengelder auf ihrem Konto möglichst unangetastet zu lassen.
Sie sei sehr dankbar, dass ihr jetziger Freund sie nach wie vor finanziell unterstütze. Doch wenigstens könne sie jetzt – da die Schulden weg sind – auch endlich etwas zum gemeinsamen Haushalt beisteuern. «Manchmal
diskutieren wir an der Migroskasse, wer bezahlen darf», sagt Nina lachend.
Warmherzigkeit statt kalte Schulter
Die finanzielle Unterstützung sei eine grosse Entlastung, sagt Nina. Es habe aber auch gut getan, sich mit den
Spendern auszutauschen. Viele hätten ihr Mut zugesprochen und sie darin bestärkt, durchzuhalten.
Manche hätten auch von ihren eigenen Schicksalsschlägen, von Geldnot und schwierigen Zeiten
erzählt.
„Die meisten Leute, die Kontakt zu mir
aufnahmen, haben selbst kein
einfaches Leben geführt. Und viele von
ihnen besitzen nicht viel.„
Es bedeute ihr umso mehr, dass sie ihr Geld trotzdem mit ihr haben teilen wollen.
In den vergangenen Jahren war Nina mit vielen Vorurteilen konfrontiert, und auf Ämtern musste sie sich
immer wieder Anfeindungen gefallen lassen, oftmals wurde ihr die kalte Schulter gezeigt. «Die Leute dachten,
dass ich über meine Verhältnisse gelebt habe», sagt Nina. Dass sie in den letzten Monaten auf viele warmherzige, verständnisvolle Menschen treffen durfte, habe ihr neue Zuversicht gegeben. Aus einigen der Begegnungen seien sogar Freundschaften entstanden – etwa zu einem 91- jährigen St.Galler.
Sie merke auch, dass sie offener und zugänglicher geworden sei, sagt Nina. Und sie habe ihr
Selbstbewusstsein wieder gefunden. «In den letzten Jahren hatte ich oftmals nicht die Kraft, mich zu wehren, wenn etwas ungerecht war. Ich habe vieles einfach geschluckt.» Sie habe sich viele Jahre lang lieber daheim
versteckt. Aus Angst, sie würde es nicht schaffen, ein Lächeln aufzusetzen und «Es geht mir gut» zu
schwindeln, wenn jemand fragen sollte.
Heute verlasse sie das Haus mit einem positiven Gefühl und freue sich, Menschen zu treffen. Im Herbst spielte sie sogar in einem Theaterstück mit. Und sie wagt auch wieder zu träumen:
„Ein Hund wäre schön – irgendwann
einmal.„
Fast sinnbildlich für Ninas Neuanfang kehrte etwas lang verloren Geglaubtes zu ihr zurück: «Mein Plüschhund
Lucky ist wieder da. Plötzlich fand ich ihn in einer Kiste, als ich die Spielsachen meiner Tochter für den Flohmarkt sortierte.» Lucky hat schon viel mitgemacht. Seit Nina fünf Jahre alt war, ist das Plüschtier ihr treuer Begleiter. Während der Schule sass es in ihrem Rucksack, während der Jahre im Kinderheim tröstete es sie. «Ich habe viel geweint, Lucky war oft nass.»
Kein Blick zurück, sondern nach vorne
Nina will nicht mehr weinen. Sie hat sich fest vorgenommen, nur noch nach vorne zu blicken. Deshalb
verzichtet sie darauf, rechtlich gegen ihren Ex-Freund vorzugehen. Sie wisse, dass sie von ihm kein Geld
bekommen werde. Er habe Privatkonkurs angemeldet und kämpfe mit Suchtproblemen.
„Ich spare das erhaltene Geld lieber.
Endlich kann ich an meine Zukunft
denken und meine ganze Energie für
meine Tochter einsetzen.„
Nach der Lehre wolle sie ihr Kind zu sich nehmen. Kürzlich habe ein Standortgespräch mit der
Beistandschaft stattgefunden, und es sehe gut aus. Doch eins nach dem anderen. Denn zuerst muss Nina noch zum Briefkasten. Sie tut es gerne.
*Name der Redaktion bekannt.
Quelle: Aargauer Zeitung / Stephanie Martina / 31.10.2020